Im Laufe des Jahres wird in Argentinien die Präsidentschaftswahl über die Bühne gehen. Javier Milei, ein politischer Newcomer mit radikalen liberalen Ansichten, wird wohl kandidieren. Er punktet bisher v. a. bei den Jungen.
Ein Löwenkopf prangt am Rednerpult von Javier Milei. In schwarzer Lederjacke springt der Shooting-Star der argentinischen Rechten auf die Bühne. „Libertad, libertad, libertad“ (dt. Freiheit), brüllt er ins Mikrofon. Das Publikum johlt, wie immer bei seinen Wahlkampfauftritten in der Hauptstadt Buenos Aires. „Verdammte politische Kaste, Drecksäcke, Parasiten“, schreit er. Und dass er niemals gegen Freiheit und das Privateigentum vorgehen werde.
Noch ist offen, ob der 52-Jährige bei der Präsidentschaftswahl 2023 kandidieren wird. Aber: „Wenn nur die unter 30-Jährigen wählen dürften, würde Milei die Präsidentschaftswahl wohl gewinnen“, sagt Lucas Romero vom Meinungsforschungsinstitut Synopsis in Buenos Aires. Befragt nach ihrer Wahlabsicht hätten im Oktober vergangenen Jahres 50 Prozent der stimmberechtigten Unter-30-Jährigen Milei genannt. Allerdings stellt diese Altersgruppe nur rund 30 Prozent der Wahlberechtigten.
Anti-feministisch. Milei genießt seine Auftritte. Anfang der 1990er Jahre stand er als Musiker einer Band auf der Bühne, die mit mäßigem Erfolg Titel der Rolling Stones coverte. Nun rockt Milei das Publikum bei seinen politischen Auftritten – und bekommt wohl mehr Zuspruch als früher mit der Gitarre.
Im Juli 2021 gründete er die „La Libertad Avanza“. Das Bündnis aus kleinen libertären, rechtsliberalen und rechtskonservativen Gruppierungen holte bei den Teilwahlen zum Kongress im November 2021 in der Stadt Buenos Aires 17 Prozent der Stimmen und wurde damit auf Anhieb drittstärkste Kraft.
Bezogen auf ganz Argentinien stellt der Wahldistrikt Buenos Aires-Stadt nur acht Prozent der Wahlberechtigten. Landesweit holten die Kandidat:innen der radikalliberalen und extremen Rechten nur sieben Prozent der Stimmen. Mileis Erfolg war – noch – auf die Hauptstadt begrenzt.
Aber ein Jahr später nannten landesweit schon über 20 Prozent der Wahlberechtigten spontan Milei auf die Frage, wen sie ins Präsidentenamt wählen würden. „Vor November 2021 existierte das Phänomen Milei nicht“, betont in diesem Zusammenhang Meinungsforscher Romero.
Seine Anhängerschaft ist vor allem jung und männlich, studiert oder hat einen universitären Abschluss. Sein Rückhalt bei jungen Frauen hingegen ist gering. Das ist nicht nur seinen machohaften Auftritten geschuldet. Milei vertritt konservative und anti-feministische Auffassungen, wie etwa ein Abtreibungsverbot. Dagegen sind seine liberalen Ansichten wie die Unterstützung der gleichgeschlechtlichen Ehe weder der katholischen Kirche noch den Evangelikalen geheuer.
Argentinien
Hauptstadt: Buenos Aires
Fläche: 2.780.400 km2 (33 mal so groß wie Österreich)
Einwohner:innen: 47,3 Millionen, davon leben etwa 16 Millionen in der Área Metropolitana de Buenos Aires
Human Development Index (HDI): Rang 47 von 191 (Österreich 25)
BIP pro Kopf: 10.729,23 US-Dollar (2021, Österreich: 53.267,9 US-Dollar)
Regierungssystem: Präsidentielle Demokratie. Staatsoberhaupt und Regierungschef ist seit Dezember 2019 Alberto Fernández von der Peronistischen Partei.
Die Wirtschaft steckt seit vielen Jahren in einer schweren Krise, seit 2018 gehört Argentinien zu den 20 Ländern mit der höchsten Inflationsrate weltweit. Die Verschuldung beim Internationalen Währungsfonds liegt bei rund 44 Milliarden US-Dollar.
Lagerkampf. Milei ist ein politischer Outsider, er hat kaum politische und parlamentarische Erfahrung, bis auf seine zwei Jahre als Abgeordneter im Kongress. Allerdings ist Argentiniens politische Landschaft rechts von der Mitte zerstritten. Noch ist nicht ausgemacht, ob sich eine rechte Parteienkoalition bildet, die sich auf eine bzw. einen gemeinsamen Kandidierenden einigt. Anderenfalls werden sich die Parteien gegenseitig die Stimmen streitig machen.
Milei setzt klar auf das zweite Szenario. Deshalb attackiert er verstärkt die potenzielle Konkurrenz von Mitte rechts bis rechts und weniger die regierenden linksprogressiven Peronist:innen. Denn deren Kandidat:innen können mit den rund 30 Prozent Stimmen der peronistischen Stammklientel rechnen. Würde Milei es schaffen, so gut abzuschneiden, dass er in eine Stichwahl kommt, hätte er tatsächlich die Chance auf den Einzug in den Präsidentenpalast.
Quotenbringer. Statt Buchhalter zu werden, wie es sein Vater wollte, der sich selbst zu einem wohlhabenden Busunternehmer hochgearbeitet hatte, studierte der Sohn Wirtschaftswissenschaft. Bevor er in die Politik ging, tingelte Milei als Ökonom durch alle Tele-Talkshows, die ihn einluden. Und das waren mit der Zeit viele. Seine stets aggressiven bis cholerischen Auftritte versprachen beim trockenen Thema Wirtschaft beste Unterhaltung – und damit Quote.
Milei ist ein ausgezeichneter Kenner seines Faches, argumentativ äußerst schlagfertig und in seinen Abrechnungen gnadenlos. Er ist weder ein klassischer Liberaler noch ein neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler, sondern ein Libertärer: Milei beruft sich auf die österreichische Schule der Nationalökonomie und ihre Vertreter, die Ökonomen Carl Menger, Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sie einen auf Wettbewerb basierenden freien Markt ohne staatliche Eingriffe propagiert.
Mileis Idol ist der US-Amerikaner Murray Rothbard, der Mitte des vorigen Jahrhunderts den Begriff des Anarchokapitalismus prägte. Er vertrat einen freien Markt-Kapitalismus, in dem das Recht auf Privateigentum ein Naturrecht ist und der staatliche Eingriffe oder Regulierungen als quasi legalisierte Form von Diebstahl versteht.
Verbale Rundumschläge. Diese Auffassung vertretend, geht Milei weiter und versteht den Staat als eine kriminelle Vereinigung und andere Politiker:innen als organisierte Verbrecher. Für Milei sind sie, egal welcher politischen Couleur sie angehören, Teil einer parasitären Kaste. Das unterscheidet ihn von jenen rechten Strömungen, die auf einen Staat als Regulierungsinstanz setzen. Dass er inzwischen selbst zur politischen Kaste gehört, versucht Milei zu relativieren, indem er medienwirksam seine Bezüge als Parlamentsabgeordneter unter seinen Fans verlost.
Resonanz fand Milei mit seinen wütenden verbalen Rundumschlägen bei der Wahl 2021 in den reichsten und den ärmsten Vierteln der Hauptstadt. Und der Trend setzte sich auf landesweiter Ebene fort. „Die Reichen sind sauer, sehen einen Staat, der sich in alles einmischt, und die Armen wegen der ökonomischen Unsicherheit“, führt Meinungsforscher Romero aus.
Dass Milei besonders junge Erwachsene anzieht, erklärt er so: „In einem Land, in dem seit 20 Jahren nahezu ununterbrochen linke Regierungen an der Macht sind, ist es unter den Jungen nicht rebellisch, sich links zu positionieren.“
Danach gefragt, was er in den ersten 100 Tagen einer Amtszeit als Präsident machen würde, nennt Milei zuerst die Abschaffung der Zentralbank. Deren Politik des Gelddruckens sei die Ursache der hohen Inflationsrate, die in diesem Jahr voraussichtlich die 100-Prozent-Marke erreichen wird. „Einen realistischen Plan hat Milei nicht“, so der renommierte Journalist Carlos Pagni.
Jürgen Vogt lebt seit 2005 in Buenos Aires und ist u. a. Korrespondent der deutschen Tageszeitung Taz.
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